Jochen Becker | Seminare für Friseure

Kann ein Friseur ohne Trinkgeld überleben? Ja, wenn…

Kann ein Friseur ohne Trinkgeld überleben? Ja, wenn…

Für einen Aufschrei in einer Facebook-Friseurgruppe sorgte kürzlich ein rostiger 1€ als „Dank“ für 2 Stunden Friseurarbeit! Überschrift: „Ich bin echt stinksauer, dann lieber gar nichts!“ Und viele Kollegen & Kolleginnen schlugen sofort in die gleiche Kerbe… “Trinkgeld sichert das Überleben von uns Friseuren“, „Gott sei Dank sind die meisten Kunden ja recht dankbar & anständig“, etc. Ich frage mich ernsthaft: Kann eine Branche noch tiefer sinken?

Wohl erzogene Kund*innen anerkennen eine Dienstleistung (egal ob Friseur, Kosmetik, Gastronomie, Müllabfuhr etc.), mit der sie zufrieden sind, mit einem mal mehr mal weniger großzügigen monetären Obolus, auch Trinkgeld genannt. (Oder sollten wir ab jetzt lieber „Überlebensgeld“ sagen?) Nun ist es jedoch ein offenes Geheimnis, dass vor allem Dienstleistungen, die mit einem niedrigen sozialen Status assoziiert werden und deren Dienstleister erfahrungsgemäß als schlecht bezahlt gelten, der Trinkgeldzuwendung zuzuordnen sind. Und das hat durchaus historischen Bezug, wenn ihr mir diesen kleinen Schwenk erlaubt: Denn Adelige warfen dereinst ihren Dienern ab und zu Münzen als Geschenk vor die Füße. Diese verwendeten das Geld meist dazu, etwas in den Wirtshäusern zu trinken.

Überleben

Friseurmeister und Coach Jochen Becker©privat

Das mit dem Trinken hat sich zwar inzwischen erledigt – etwas Gönnerhaftes haftet diesem Ritual jedoch auch heute noch an! Gebe ich zu wenig, fühlt sich der Empfänger/die Empfängerin erniedrigt, gebe ich zuviel, gelte ich schnell als Geizhals oder Großkotz! Wobei Letzteres sicherlich eher ein Luxusproblem darstellt und vor allem in unserer Branche Seltenheitswert genießen dürfte.

Aber schwarzer Humor beiseite, allein die Tatsache, dass Trinkgeld so intensiv thematisiert wird wie in unserem Handwerk, zeigt doch, dass da definitiv was faul ist im Staate Deutschland! Es kann doch nicht sein, dass dem Friseur ohne dem willkürlichen, nicht kalkulierbaren Zusatzeinkommen der Hungertod droht! Findet also den Fehler! Bestraft uns Friseure etwa unser emotionaler Grundgedanke, dass es heutzutage noch ausreicht, wenn man mit Liebe zum Beruf leidenschaftlich kreativ ist? Wovon träumt ihr nachts?

Alle, die jetzt als hochqualifizierte Friseurkollegen*innen aufschreien, haben ja sicherlich die passenden Preise und eine entsprechende Entlohnung ihrer Mitarbeiter*innen. Mit lebenswerten Preisen für Dienstleistung und Produkt können genau diese Friseure die vom Kunden gewählte Trinkgeldhöhe entspannt entgegennehmen und werden trotzdem satt – selbst wenn die „Tipp“-Bezahlung nichts weiter als ein hoffentlich ehrlich gemeintes Lächeln ist. Herzlichen Glückwunsch! Alles richtig gemacht!

Was ist jedoch mit all denjenigen, die gerade mal den Mindestlohn bekommen (was übrigens vielen Kund*innen gar nicht bewusst ist). Im Herbst 2022 soll dieser auch in unserem „Traditions-Handwerk mit goldenem Boden“ „großzügig“ aufgestockt werden – auf 12,-€! Wow! Unserem Verband, dessen Aufgabe es ist, für uns Friseure zu kämpfen, soll aufgefallen sein, dass der Bock auf den ja eigentlich sehr schönen, kreativen und vielfältig nutzbaren Beruf drastisch sinkt. Er löst einfach keine Begeisterung mehr bei den jungen Leuten aus…! Aha?!

So traurig! Unser Beruf muss endlich wieder „wertvoll“ werden! Dazu müssen die Messlatten definitiv herausfordernd höher gelegt werden. Und zwar schon bei der Ausbildung eines jungen Menschen! In Berufen mit hoher Entlohnung eine Grundvoraussetzung, um Standards zu halten und Nachwuchs zu motivieren.

Und eines ist sicher: Nach Corona ist das „Überleben“ in finanzieller Hinsicht sowieso alles andere als rosig, denn die Welt kostet kurzfristig und auf lange Sicht gesehen immer mehr, um sich ein „normales Leben“ zu finanzieren, ohne staatliche Hilfe in Anspruch nehmen zu müssen und ohne auf das „Überlebensgeld“ angewiesen zu sein.

Umdenken, seiner beruflichen Liebe das nötige Know-how verpassen, sein Preis-/Leistungsniveau überdenken und anschließend begeisternde, leistungsgerechte Löhne bezahlen…so lassen sich nicht nur Krisen meistern, sondern auch rostige 1-Euro-Trinkgelder wegatmen!